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1978. Vera wusste sehr genau, was ihr bevorstand. Schließlich hatte sie diese Szene schon zigmal erlebt. Und immer war sie hart geblieben. Wenn sie jetzt nachgeben würde, hätte sie ein für alle Male verloren.

Matthias trödelte scheinbar gedankenverloren hinter ihr her. Er konnte es nicht leiden, wenn seine Mutter ihn zuerst aus dem Kindergarten abholte und anschließend noch die Einkäufe erledigte. Viel lieber wäre er ohne Umwege nach Hause gegangen und hätte sofort mit der Carrera Rennbahn gespielt. Seine Mama konnte so ungerecht sein! Sie ließ ihm gar keine andere Wahl, als seine Show auch heute wieder abzuziehen. Vor dem Konservenregal stand ein Einkaufswagen, in dem ein anderer Junge in seinem Alter saß. Die Mutter des anderen Jungen war damit beschäftigt, eine Dose mit der optimalen Menge Erbsen- und Möhrengemüse zu finden. Matthias nutze die Gelegenheit, seine beiden Zeigefinger in die Mundwinkel zu stecken, den Mund damit in die Breite zu ziehen und dem Jungen in dem nach seiner Ansicht für Babies gedachten Kindersitz mal deutlich die Zunge rauszustrecken. Der fing sofort an zu heulen und Matthias machte sich vom Acker. Immerhin hatte er wenigstens ein Ziel erreicht und er fühlte sich masslos überlegen.

Jetzt galt es nur noch, seiner Mutter mal deutlich zu machen, wer hier die Hosen anhat. Er preschte vor, überholte Vera mit ihrem Einkaufswagen und positionierte sich in letzter Sekunde vor dem Süßigkeitenregal an der Kasse. Mit gezieltem Griff langte er nach einem curlywurly und hielt es seiner Mutter mit ausgestrecktem Arm entgegen. „Aha“, dachte Vera, „die Schlacht beginnt“. Aber ihre Strategie war klar und das brachte sie unmissverständlich zum Ausdruck: „Nein, Matthias, leg das zurück. Wir gehen jetzt nach Hause und dann gibt’s Fischstäbchen. Und hinterher kannst du ein Schälchen Apfelmus haben.“
„Ich will aber kein Apfelmus“, brüllte der kleine Rebell aus voller Brust. „Du musst es ja nicht essen“ entgegnete Vera. „Aber den Schokoriegel kaufe ich dir mit Sicherheit nicht.“

Matthias sah überhaupt nicht ein, dass er aufgeben sollte. Nach kurzer aber heftiger Diskussion ging er zu Stufe zwei seiner Taktik über. Irgendwann musste er damit doch mal Erfolg haben. Er warf sich auf den Boden, jammerte, Schrie, trommelte mit den Fäusten auf den Boden und drückte so heftig auf die Tränendrüsen, dass nun sämtliche Supermarktkunden und Verkäuferinnen wie erstarrt die Szene verfolgten. Vera schob ihren Wagen um den widerlichen kleinen Brüllzwerg herum, packte ihre Einkäufe auf das Band, tauschte ein paar Höflichkeiten mit der Kassiererin aus, verstaute die bezahlte Ware in ihrer Einkaufstasche und verließ den COOP. Nach einer Weile trotte auch ihr Zwergrebell hinter ihr her zum Parkplatz. Mittlerweile war er so erschöpft von seinem Kampf, den er ganz alleine zu Ende bringen musste, dass nur noch ein leises Wimmern zu hören war.

2014. Aus dem rebellischen kleinen Matthias ist Matze der Fighter geworden. Seit nunmehr 12 Jahren arbeitet er in einer Werbeagentur und kreiert Radiospots für Möbel- und Elektronikdiscounter. Seinem Stil ist er niemals untreu geworden. Der einzige Unterschied zu den Kampagnen seiner Kindheit: Heute lässt er andere seine Botschaften brüllen. Er fühlt sich richtig gut dabei.

Und auch Vera ist bis heute standhaft geblieben. Hört sie die Radiospots ihres kleinen Revoluzzers, schaltet sie einfach auf Durchzug.